- Anmelden oder Registrieren, um Kommentare verfassen zu können
- 183 Aufrufe
Für ein kleines Fotoprojekt haben wir heute Sportplätze fotografiert, und da gerade die Fußballweltmeisterschaft stattfindet, gibt es noch ein paar An- wie Einsichten als Zugabe zu den Fotos. Zunächst - ich habe mich nie sonderlich für Fußball interessiert, obschon mir Sport viel bedeutet und ich Mannschaftsspiele mag. Allerdings fand ich es immer gut, wie viel Kraft und Ablenkung Freunde und Bekannte schon als Zuschauer aus diesem Sport ziehen konnten und können.
Den Realitätsakzent für kurze Zeit auf eine andere Welt zu richten und in dieser aufgehen zu können, ist schon seit der Veröffentlichung der "Strukturen der Lebenswelt" von Alfred Schütz und Thomas Luckmann als notwendiges Vehikel bekannt, um notwendige Pausen von den Sorgen und Problemen der realen Welt erhalten zu können; Pausen, die erheblich zu einem gesunden Lebenszyklus beitragen. So sind manche in der Lage, den Realitätsakzent auf eine Oper zu setzen, um eben diese Pause von den Alltagssorgen zu erhalten. Beschränkt sich diese Option meist auf einen kulturell interessierten kleineren Kreis, so ist der Besuch oder das Anschauen eines Fußballspiels sogar massentauglich. Hier zeigt sich eine andere gesellschaftliche Dimension von "Fußball", die weit über Spaß, Zeitvertreib und körperliche Ertüchtigung usw. hinaus- und mit dem Happy End eines Sieges oder dem Drama einer Niederlage einhergeht.
Wenn man diese Gedanken teilt, dann muss man sich natürlich die Frage stellen: Was ist notwendig, um diese "Fußballwelt" als gelegentliche oder persönlich institutionalisierte Wechselmöglichkeit aus der "realen Welt zu erhalten - und damit als Kraftquelle der Gesellschaft insgesamt?
Was sicher nicht funktioniert, ist die Vorstellung, Fußballspieler seien Roboter, die wie Marionetten von Geisterhand über den Platz zum Sieg geführt werden. Man liest gelegentlich Anmerkungen wie "Bei so hohen Gagen müssen die einfach besser spielen" etc. Schnell wird bei dieser einfachen Sichtweise die menschliche Komponente der Spieler übersehen, die -wie jeder andere auch - alle globalen, regionalen und lokalen Sorgen mit sich herumtragen. Je mehr in der realen Welt davon vorhanden ist, umso stärker wird die zwingend notwendige mentale Fokussiertheit auf das Ziel, ein Spiel gewinnen zu wollen, beeinträchtigt. Schafft der Spieler es nicht, den individuellen Realitätsakzent auf eben dieses Ziel zu richten und voll darauf zu vertrauen, dass er es auch erreichen kann, ist ein Happy End nach 90 + X Minuten Spielzeit fraglich. Die Chancen sind natürlich am höchsten, wenn der Spieler keinen mentalen Ballast mit sich rumschleppen muss und sich der Unterstützung der Zuschauer - nah wie fern - gewiss sein kann.
Doch wie sah es für die WM-11 bei dieser Weltmeisterschafft mit dem mentalen Ballast der Spieler aus? Da lassen sich die individuellen Einflüsse nach den drei Kategorien Globale -, Regionale - und Lokale Einflüsse aufzeigen.
Die Globale Situation ist erschreckend. Russland führt Krieg in der Ukraine, zwei Jahre Covid-Einschränkungen, Trump meldet sich in den USA zurück, Erdogan zieht alle (Kriegs-)Register, um an der Macht zu bleiben, im Iran werden die Demonstranten für Frauenrechte niedergeknüppelt .... und last but not least, bei dem Klimawandel scheint es nun fünf nach 12:00 Uhr zu sein.
Und wie sieht die Regionale Situation in Deutschland aus, mit der sich die Spieler vor und nach ihrer Abreise nach Qatar konfrontiert sahen?
Mediales Getöse über Armbinden, Regenbogenflaggen, diskriminierende Worte über die Kultur der Gastgeber, deren traditionelle Kleidung als Morgenmäntel im TV verunglimpft werden, Menschenrechtsverletzungen, Korruptionsverdacht, Bestechung, FIFA, zu hohe Gagen - an allen möglichen negativen Begleiterscheinungen dieser Weltmeisterschaft haben sich die Medien abgearbeitet und sich in ihren Enthüllungen und Behauptungen permanent überboten.
Und wir Deutsche maßen uns tatsächlich an, über die Kultur in Qatar z.B. wegen derer religiösen Regeln zu richten? Da hat man in unserem Vorzeigeland wohl die aktuellen Pädophilen Skandale z.B. in der katholischen Kirche vergessen. Oder unsere Empörung über die Stellung von Homosexuellen in Qatar? Da hat man wohl verdrängt, dass bis 1969 noch rund 50.000 Männer in Deutschland auf Grund ihrer geschlechtlichen Orientierung mittels des Nazi-Paragrafen 175 verurteilt worden sind. Erst seit 2016 werden davon Betroffene entschädigt - das ist gerade mal acht Jahre her. Im Rahmen der Rechtskunde-AG am Gymnasium durften wir noch 1968 an einer 175er-Verhandlung am Amtsgericht Bochum teilnehmen und der Angeklagte, der sich am liebsten unter seiner Bank während des fünf Stunden dauernden peinlichen Prozesses verkrochen hätte, tat uns allen nur leid.
Und da das alles ja in Qatar so schlimm ist und wir in Deutschland ja so viel besser sind, schauen wir uns die Spiele erst gar nicht an und berauben unsere WM11 auch noch dieser wichtigen Kraftquelle.
Und die lokale Situation in Qatar für die Spieler?
Da mussten sich die Spieler Gedanken um Armbinden und die richtigen Posen machen; man muss politisch korrekt sein und sich mit einem Fuß in der neuen Regenbogenwelt verankern und gleichzeitig nicht die Regeln der Gastgeber mit den Füßen treten ... Dabei sollten die Füße eigentlich nur nach einem treten: nach dem Ball in Richtung des generischen Tores.
So haben wir eine Mannschaft nach Qatar geschickt, der wir vor allem eines mitgegeben haben: dass man dort nicht spielen dürfte, dass die FIFA ein verkommener Verein wäre und, das Beste überhaupt, dass wir uns die Spiele unserer Nationalmannschaft auf Grund unserer kulturellen Überlegenheit nicht anschauen würden.
Und die Mannschaft tat ihr Bestes, um unter diesen Umständen unseren Vorgaben gerecht zu werden, sie posierte und klagte an und verließ somit erfolgreich Qatar - denn an Fußball waren wir eigentlich gar nicht interessiert, oder doch? Jetzt scheinen vor allem die Mannschaften erfolgreich zu sein, denen ihr Land nicht so eine heuchlerische Mitgift in den Rucksack gepackt hat, wie sie unsere WM11 mitschleppen musste. Bei diesen Voraussetzungen hätten die Spieler die Nationalhymne auch mit dem bekannten "Morituri te salutant" beenden können - toll, dass sie es nicht getan haben!
Apropos - aus ähnlichen wie o.g. Gründen bin ich wegen der Flugdemonstration von Greenpeace im Münchener Stadion während eines Fußballspiels nach Jahrzehnten langer Mitgliedschaft aus diesem Verein ausgetreten. Und, Fußball interessiert mich immer noch nicht, funktionierende europäische Gesellschaften aber schon, die das Wissen um mentale Rückzugsräume verstehen und bewahren müssen und nicht leichtfertig beeinträchtigen und zerstören dürfen.